Chancen für Nichtakademikerkinder

Von der Grundschule bis zur Promotion – soziale (Selbst-) Selektion benachteiligt Nichtakademikerkinder

Welchen Einfluss haben die familiäre Herkunft eines jungen Menschen und die Bildung seiner Eltern auf seine Bildungschancen im Hochschulsystem? Die Antwort lautet: einen enorm großen Einfluss.

Eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben bereits nur etwa halb so viele Nichtakademiker- wie Akademikerkinder. Doch danach hört die soziale Selektion nicht auf: Bis zum Master steigt die Relation auf knapp 1:6, bis zum Doktortitel sogar auf 1:10. Das heißt, von 100 Akademikerkindern erwerben durchschnittlich zehn den Doktortitel, von 100 Nichtakademikerkindern nur eines.

 

Bildungschancen von der Grundschule bis zur Promotion

Die Grafik, die unsere Untersuchungsergebnisse abbildet, nutzt das Konzept der Leaky Pipeline aus der sozialen Ungleichheitsforschung und wendet es auf die Bildungsherkunft an. Mit dem Begriff Leaky Pipeline wird in der Wissenschaft der absinkende Anteil einer Personengruppe auf den verschiedenen Qualifizierungsstufen bezeichnet, der auf eine fortbestehende strukturelle Ungleichheit hinweist. Für die Jahresangaben zu den Daten gilt – mit Ausnahme der Promotionsdaten – das Kohortenprinzip. Das heißt, für Bachelorabsolventen werden zum Beispiel die Daten des Prüfungsjahrgangs 2012 verwendet, also zwei Jahre vor den letzten verfügbaren Daten zum Masterjahrgang 2014. Dies entspricht der durchschnittlichen Masterstudiendauer.

Hierbei kann man sich die erfolgreichen Übergänge zwischen den Qualifizierungsstufen bildlich als die vorstellen, die am Ende der Pipeline noch herauskommen, während abgehende beziehungsweise aussteigende Kohortenanteile die "Leckage" an Verbindungsstellen oder Zapfstellen sind. Dies heißt nicht, dass unbedingt alle, die hierzu berechtigt oder formal qualifiziert sind, studieren oder promovieren sollten – die Chancen dafür sollten  aber von der Herkunft unabhängig sein.

 

Bildungstrichter: Grundschule – Studium – Promotion

Anzahl der Grundschulkinder von 100 Grundschulkindern, welche die nächste Bildungsstufe erreichen, sowie Übergangs- und Abgangsquoten in Prozent, nach Bildungshintergrund der Eltern

Lesehilfe: 21 von 100 Nichtakademikerkindern beginnen mit einem Studium, acht von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Mastertitel, eines den Doktortitel

1 Mittelwert zweier Erhebungen

2 Nichtakademikerkinder: kein Elternteil mit Hochschulabschluss; Akademikerkinder: mindestens ein Elternteil mit Hochschulabschluss

Quelle: 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks; Briedis et al. 2014: Berufswunsch Wissenschaft; Kooperationsprojekt Absolventenstudien 2016, 2014: Nationaler Bildungsbericht 2016; Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017; Statistisches Bundesamt (mehrere Jahre)

 
In der Grafik werden die Bildungschancen für je 100 Nichtakademikerkinder und 100 Akademikerkinder für die dort genannten Jahre verglichen. Von 100 Grundschulkindern nehmen nur 21 ein Studium auf, von 100 Akademikerkindern schreiben sich hingegen durchschnittlich 74 an einer Hochschule ein. Im Hochschulsystem setzt sich diese Tendenz fort: Die Quote der Nichtakademikerkinder, die vom Studienanfang bis zum erfolgreichen Bachelorabschluss dabeibleiben, liegt bei 70 Prozent und ist damit um 15 Prozentpunkte geringer als die Quote der Akademikerkinder (mit 85 Prozent). Bis zum Masterabschluss summieren sich die Unterschiede, sodass von anfänglich 100 Nichtakademikerkindern letztlich nur acht den Masterabschluss erwerben. Von den Akademikerkindern sind es aber mit 45 rund sechsmal so viele. Bei der Promotion beträgt das Verhältnis bei den Nichtakademikerkindern schließlich insgesamt 1:100.

Man kann aus den Zahlen auch etwas Positives ablesen: In der Phase vom Beginn des Bachelorstudiums bis zu dessen Abschluss verändert sich die soziale Zusammensetzung der Studierenden relativ gesehen am wenigsten.

Im Bachelorstudium ist die soziale Selektion (zum Beispiel durch sozialspezifische Abbruchquoten) relativ gering ausgeprägt, sie findet vielmehr vor und während der Masterphase statt. Von 100 Bachelorabsolventen aus akademischen Elternhäusern erreichen 72 Prozent einen Masterabschluss, aus nichtakademischen Elternhäusern sind es 56 Prozent. Die deutliche soziale Selektion im Masterbereich ist sowohl auf geringere Übergangsquoten vom Bachelor in den Master als auch auf geringere Erfolgsquoten von Nichtakademikerkindern im Masterstudium zurückführen.

 

Gründe für die soziale Selektion im Master

Bisherige Studien zeigen, dass die soziale Selektion beim Übergang in den Master nicht auf Leistungsunterschieden beruht. Die Bachelorabschlussnote hat nur geringe beziehungsweise keine Effekte für eine Entscheidung für ein weiterführendes Masterstudium (vgl. Trommer et al. 2017; Alesi et al. 2015). Stattdessen haben ein nichtakademischer Bildungshintergrund und/oder andere Merkmale, die wiederum mit der sozialen Herkunft zusammenhängen, sozial selektive Effekte: Studierende mit einer vor dem Studium abgeschlossenen Berufsausbildung sowie Teilzeitstudierende nehmen deutlich seltener ein Masterstudium auf (vgl. Krempkow 2017; Ebert/Stammen 2014). Die Bildungsherkunft hat in diesem Fall indirekte Effekte, da bei Nichtakademikerkindern der Anteil mit Berufsausbildung beziehungsweise mit Teilzeitstudium deutlich höher ist als bei Akademikerkindern.

Für die Erfolgsquote im Masterstudium lagen bis vor Kurzem keine veröffentlichten Ergebnisse vor. Es war laut OECD (2016) aber anzunehmen, dass auch hier Nichtakademikerkinder über direkte und/oder indirekte Effekte letztlich geringere Erfolgschancen haben. Die jüngste Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) zu Abbruchquoten (Heublein et al. 2017) bestätigt dies: Unter den Abbrechern sind mit insgesamt über der Hälfte überproportional viele Nichtakademikerkinder. Darüber hinaus zeigt sie, dass sich die Hauptursachen des Studienabbruchs deutlich nach Bildungsherkunft unterscheiden: Von den Studienabbrechern, die ihr Studium vor allem aufgrund beruflicher Alternativen und persönlicher Gründe aufgegeben haben, kommt die Hälfte aus Akademikerfamilien. Das Abbruchmotiv der finanziellen Situation ist dagegen durch Studienabbrecher ohne Akademikereltern geprägt: 72 Prozent derer, die das Studium aus diesem Grund abbrechen, haben keinen akademischen Hintergrund.

 

Fazit: Soziale (Selbst-) Selektion vermeiden

Im deutschen Bildungs- und Hochschulsystem herrscht eine starke soziale Selektivität vor. An allen Stufen des Bildungssystems sind für Nichtakademikerkinder die Beteiligungsquoten an Bildung niedriger und an allen Schwellen sind ihre Abgangsquoten höher. Dies ist nicht (allein) auf Leistungsunterschiede zurückzuführen und weist deshalb nicht nur auf eine eingeschränkte Chancengerechtigkeit, sondern auch auf verschenktes intellektuelles Potenzial hin. Allerdings muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass in vielen Ländern die Chancen auf einen Hochschulabschluss mit mindestens vierjähriger Ausbildungszeit noch stärker sozialspezifisch auseinandergehen als in Deutschland (UNESCO 2017).

Im Hochschulsystem zeigt der geringe Einfluss der Bachelorabschlussnoten, dass die niedrigeren Übergangsquoten von Nichtakademikerkindern in den Master kein Qualifikationsproblem sind. Häufig ist dies ein Entscheidungsproblem (zurückgehend unter anderem auf ein Informationsproblem, vgl. Ehlert et al. 2017) sowie ein Finanzierungsproblem: Erstens werden durch Sozialisationsprozesse Selbstbilder und Selbstwahrnehmungen geprägt, die dem Streben nach einer höheren Bildung entgegenwirken, zweitens sind Probleme bei der Studienfinanzierung nach wie vor ein Hauptgrund für den Studienabbruch von Nichtakademikerkindern.

In den Hochschulen sollten Maßnahmen in Kernprozessen helfen, unbewusste und möglicherweise ungewollte Selbstselektivität zu verringern. Beispielsweise kann die Verbesserung der Möglichkeiten des Teilzeitstudiums in Masterstudiengängen als eine Form der „Ermöglichung eines Studiums mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ (Wissenschaftsrat 2017) ein geeigneter Ansatzpunkt sein, um die Weiterstudienneigung insbesondere auch von Nichtakademikerkindern zu fördern. Ebenso ist eine generell stärkere Berücksichtigung der Diversität und der unterschiedlichen (beruflichen) Vorerfahrungen anzustreben. So macht nach den Ergebnissen der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes (Middendorf 2017) zum Beispiel die Gruppe der über 30-jährigen Studierenden mittlerweile über 10 Prozent aus. Diese Gruppe hat ebenfalls spezifische Ausgangsbedingungen (zum Beispiel haben sie häufiger bereits Kinder und Berufserfahrung vor dem Studium), die bisher nicht adressiert werden. Darüber hinaus könnte auch ein größeres Angebot berufsbegleitender Masterstudiengänge Studierende aus Nichtakademikerfamilien motivieren, nach dem Bachelor weiterzustudieren, weil sie sich nicht zwischen einem Studium oder einem sicheren Arbeitsplatz entscheiden müssen (vgl. hierzu auch das Handlungsfeld Quartäre Bildung).

Diese Ausweitung der Studienformen muss Hand in Hand mit einer Anpassung des BAFöG gehen, das derzeit zu wenig die besonderen und heterogenen finanziellen Anforderungen insbesondere von Nichtakademikerkindern berücksichtigt. Daher steht der Bund in der Pflicht, ein Konzept für ein lebensnahes BAFöG zu entwickeln, das nicht nur die tatsächlichen Lebenshaltungskosten abdeckt, sondern auch die unterschiedlichen Studienformen und Studienfinanzierungen berücksichtigt.

Bildungstrichter: Berechnungsgrundlagen und Erläuterungen

An verschiedenen Stellen im Bildungssystem erfolgen Übergänge, die von den Schülern und Studierenden Entscheidungen für die Fortsetzung des Bildungsweges verlangen. Die Bildungsentscheidungen an diesen Schwellen im Bildungssystem, aber auch während der Bildungsphasen (Schul-/Hochschulwechsel, Abbruch des Bildungsgangs) sind als Ergebnisse von längeren Entscheidungsprozessen zu verstehen, die in hohem Maße von sozial geprägten Abwägungen von Kosten, Nutzen und Erfolgschancen bestimmt werden. Stifterverband und McKinsey haben für die vorliegende Ausgabe des Hochschul-Bildungs-Reports erstmals für das Hochschulsystem detailliert analysiert, wie genau sich in Deutschland die Bildungswege von Nichtakademiker- und Akademikerkindern unterscheiden. Im Regelfall müssen Schüler fünf Schwellen im Bildungssystem überwinden, um einen Hochschulabschluss zu erlangen (vgl. Middendorf et al. 2013), bis zur Promotion als höchstem universitären Abschluss sind es neun Schwellen:

  1. zur Sekundarstufe 1
  2. zur Sekundarstufe 2
  3. zur Hochschulzugangsberechtigung
  4. zur Aufnahme eines ersten Studiums
  5. zum Bachelor als erstem Hochschulabschluss
  6. zur Aufnahme eines Master- oder zweiten Studiums
  7. zum Master oder einem anderen weiteren Hochschulabschluss (zum Beispiel Lehramt)
  8. zur Aufnahme einer Promotion
  9. zum Promotionsabschluss

Nicht für alle Schwellen sind Daten zu Über- und Abgängen differenziert nach dem Bildungshintergrund der Eltern verfügbar. Aus diesem Grund und zur Vereinfachung der Darstellung werden einige Schwellen in der Grafik zu unserer Berechnung nur angedeutet.

Grundlage der Analyse sind sozialgruppenspezifische Bildungsbeteiligungsquoten, wie sie ähnlich beim sogenannten Bildungstrichter in der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks
berechnet werden. Diese Quoten wurden bisher innerhalb des Hochschulsystems selbst noch nicht angewendet, sondern nur bis zum erworbenen Hochschulzugang (vgl. Middendorf et al. 2013). Mittels Abbildung 1 werden folglich erstmals auch Bildungschancen im Hochschulsystem einschließlich Promotion als höchstem hochschulischen (Studien-)Abschluss dargestellt. Allerdings musste bei der Promotion aus Gründen der Datenverfügbarkeit vom Kohortenprinzip abgewichen werden, sodass die Promotionsdaten nicht den üblichen Fünfjahresabstand zum Masterabschluss enthalten.

Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 ist eine Initiative von